Heute zählen wir 54 Raketenangriffe bzw. auch einen unbemannten Flugkörper im Norden. Fünf Soldaten wurden verwundet, insgesamt zählt Israel 40 tote Soldaten seit Beginn der Bodenoffensive im Gazastreifen. Gestern ist eine satellitengesteuerte Drohne (UAV) aus Syrien in einer Schule in Eilat explodiert, es gab zum Glück nur einen Verletzten. Experten meinen, es handelte sich um eine Drohne iranischer Herkunft. Ähnliche Drohnen mit größerer Reichweite wurden vom Jemen aus gegen Israel geschickt.
Wie ihr ja seht, habe ich mir einige Tage Pause gegönnt und nicht gepostet. Gestern hatte ich zufällig ein längeres Gespräch mit Mitgliedern eines französischen Fernsehteams. Es waren interessante Diskussionen, aber hauptsächlich Fragen an mich. Gewiss kann ein Outsider, auch wenn er Journalist ist, viele Dinge und Zusammenhänge nicht wissen. Deshalb bewunderte ich diese Journalisten, die relativ viel Ahnung an den Tag legten, aber sich nicht scheuten, Fragen zu stellen.
Wenn ich schon über die Medien spreche, in der deutsch- und englischsprachigen Presse und wahrscheinlich ebenfalls in anderen Sprachen wird fast immer nur von Israelis und Palästinensern differenziert. In keiner Weise kommt die gesellschaftliche Vielfalt des Landes Israel zur Sprache. Natürlich hilft das dem Schwarz-Weiß-Denken, man kann dann schön säuberlich die eine Seite in die eine Schublade (sagen wir mal die „gute“ Seite) und die anderen dann die andere Schublade (die „böse“ Seite) stecken.
Hinweis: Mir geht es nicht um das „Relativieren“ der Taten vom 7.10., sondern um eine bessere Darstellung der Konfliktparteien, ohne jetzt politische oder terroristische Organisationen zu nennen.
Israelis
In einem meiner früheren Tagebuch-Posts habe ich bereits erwähnt, dass die israelische Gesellschaft alles andere als homogen ist. Zum Beispiel könnte ich die jüdische Bevölkerung in verschiedene Untergruppen teilen, die wiederum verschiedene Einstellungen zu den anderen jüdischen Untergruppen und zu den anderen Bevölkerungsgruppen haben. Aber ich möchte mich auf das Wesentliche beschränken.
Jüdische Bevölkerung
Mit etwas mehr als 7 Millionen macht diese Gruppe die Mehrheit im Staat Israel aus. Davon sind ca. 70% in Israel geboren (Stand 2008, dürfte sich aber nicht wesentlich geändert haben), der Rest ist zugewandert. Z.B. sind in den Jahren 2001 bis 2007 viele französische Juden nach Israel ausgewandert, wegen des dortigen starken moslemischen Antisemitismus‘.
Die jüdische Bevölkerung muss laut Gesetzt im Alter von 18 Jahren Wehrdienst machen, 2 Jahre für Frauen, fast 3 Jahre für Männer. Ausnahme sind religiöse Juden, die in eine Toraschule gehen, sowie religiöse Frauen. Wer aus diversen, z.B. gesundheitlichen, Gründen nicht eingezogen wird, kann optional Zivildienst leisten.
Drusen
Die Drusen sind mit ca. 145,000 eine Minderheit im Land. Sie sprechen Arabisch als Muttersprache, sind aber keine Moslems, sondern haben ihre eigene großteils geheimgehaltene Religion. Die Drusen hatten sich bereits vor der Staatsgründung auf die Seite der Zionisten (Juden) geschlagen. Man muss unterscheiden zwischen den Drusen in Israel zum Jahre 1948 und den Drusen in den Golanhöhen, die die israelische Staatsbürgerschaft in der Regel ablehnen (auch wegen ihren Verwandten in Syrien).
Drusische Männer mit israelischer Staatsbürgerschaft müssen in den Wehrdienst, was für sie selbstverständlich ist. Viele melden sich zu Kampfeinheiten oder zur Grenzpolizei, das heißt sie nehmen mit die gefährlichsten Aufgaben war. Aufgrund ihrer Religion gehen Frauen nicht zum Militär.
Araber
Israelische Araber sind die Palästinenser, die 1948 nicht geflohen sind und damit im Staatsgebiet Israel blieben. Sie machen ca. 2 Millionen aus, d.h. 21% der Bevölkerung. Die überwiegende Mehrheit ist moslemisch, eine kleine Minderheit christlich.
Den Arabern ist es freigestellt, im Militär zu dienen, was aber nur wenige wahrnehmen. Alternativ dürfen sie Zivildienst leisten, was wiederum auf Freiwilligenbasis ist. Das frühere Tabu, als Araber im israelischen Militär zu dienen – wir dürfen nicht vergessen, sie sind schließlich Palästinenser – wird von immer mehr jungen Arabern gebrochen. Anfangs waren es christliche Araber, aber jetzt folgen auch moslemische Araber dem Beispiel. Es dürfte vielleicht daran liegen, dass arabische Israelis sich als gleichwertig in der Gesellschaft sehen und sich daher auch verpflichtet fühlen.
Beduinen
Es handelt sich um ca. 300,000 Israelis, die ursprünglich aus Saudi-Arabien kamen. Sie sehen sich als die echten Araber (im Gegensatz zu den lokalen Palästinensern bzw. israelischen Arabern). Ihr Verhältnis mit Israel ist schwierig, ebenso ihr Verhältnis mit den Palästinensern. Ihr Glaube ist der Islam, sie werden in den letzten Jahrzehnten immer mehr durch den Wahabismus beeinflusst, u.a. durch saudi-arabische Finanzierung von Schulen.
Trotz der Spannungen dienen Beduinen auch im Militär, aber natürlich freiwillig. Die Zahl der Freiwilligen schwankt. Unter anderem gibt es das „Beduinen-Aufklärungsbataillon“, das aber nicht nur Beduinen enthält. Schon vor Jahrzehnten wurde ein Denkmal zu Ehren der gefallenen Beduinen errichtet. Beim Hamas-Angriff am 7.10. kämpften Beduinen an der Seite der Israelis.
Tscherkessen
Die Tscherkessen kamen ca. 1870 ins Land, nachdem die meisten von ihnen (über eine Million) durch die Russen in einem Genozid umgebracht wurden. Sie stellen eine der kleinsten Minderheiten im Land dar, etwa 5000. Sie leben hauptsächlich in zwei Ortschaften und sind Moslems.
Tscherkessische Männer gehen wie die Drusen zum israelischen Militär.
Samaritaner
Wiederum eine winzige Minderheit, sind sie eine Abspaltung vom Judentum zur Zeit der babylonischen Eroberung des Landes, d.h. vor mehr als 2500 Jahren. Es gibt etwa 700 insgesamt, die Hälfte lebt auf dem Berg Grizim bei der palästinensischen Stadt Nablus, die andere Hälfte in Holon in Israel.
Armenier
Insgesamt etwa 4000. Viele von ihnen leben in Jerusalem. Es gab schon seit langer Zeit eine armenische Gemeinde in Israel/Palästina, doch sind die ein oder anderen während des armenischen Genozids der Türken im Ersten Weltkrieg nach Palästina gekommen. Sie sind Christen.
Palästinenser
1967 eroberte Israel während des Sechstagekriegs auch das Westjordanland und Ostjerusalem (nachdem Jordanien trotz Warnung dem Krieg gegen Israel beigetreten ist). Ostjerusalem, in dem sich auch die Altstadt mit Westmauer und traditionellem jüdischen Viertel befindet, wurde von Israel später annektiert. Ostjerusalem wuchs beständig an bis zum Jahr 2000, d.h. dem Ausbruch der 2. Intifada – des zweiten palästinensischen Aufstands, der sich aber auf Terrorakte konzentrierte, hauptsächlich von Seiten der Hamas. Heute leben dort über 250000 Palästinenser, die die israelische Staatsbürgerschaft in aller Regel ablehnen und die Staatshoheit Israels in Ostjerusalem nicht anerkennen.
Die ostjerusalemer Palästinenser boykottieren sogar die Bürgermeisterwahlen. Bei den letzten Regionalwahlen vor 4 Jahren wurden zwei arabische Kandidaten aus Ostjerusalem mit Morddrohungen zum Rückzug gezwungen. In Ostjerusalem sind die Schulen oft nach jordanischem Lehrplan, ebenso erkennt man den Wahabismus als Tendenz. Dennoch gibt es viele ostjerusalemer Palästinenser, die in das israelische Leben integriert sind. So stammen die allermeisten Busfahrer, die ich als Reiseleiter kennengelernt habe, aus Ostjerusalem.
Westjordanland und Gaza
Wie ich eingangs gesagt habe, will ich hier keine politischen Abgrenzungen machen. Es sei nur erwähnt, dass die Palästinenser im Gazastreifen, ca. 2 Millionen, unter der Führung der Hamas leben. Die Palästinenser im Westjordanland, insgesamt 3 Millionen, leben zum Großteil unter der Herrschaft der palästinensischen Autonomiebehörde; etwa 150000 Palästinenser leben im C-Gebiet, das unter israelischer Verwaltung steht.
Ortsansässige Palästinenser
Das sind die Palästinenser bzw. deren Nachfahren, die dort bereits lebten, als die Vereinten Nationen 1947 den Rest Palästinas in ein jüdisches und ein arabisches Land teilten. Sie sind zum Beispiel die ursprünglichen Bewohner von Bethlehem, Jericho, Nablus usw.. Als solche zählen sie nicht zu den Flüchtlingen und werden nicht von der UNRWA betreut.
Palästinensische Flüchtlinge
Sie sind während des Krieges 1947-1949 aus dem Gebiet des heutigen Israels gegangen oder geflohen oder vertrieben worden und haben sich im Westjordanland oder im Gazastreifen angesiedelt, meist in von der UN organisierten Flüchtlingslagern. Sie leben nach wie vor in größerer Armut und leiden unter dem wach gehaltenen Traum, dass sie eines schönen Tages wieder zurück in ihre Häuser in Israel können. Wer hat nicht schon den symbolischen Hausschlüssel dieser Flüchtlinge gesehen?!
Die palästinensische Autonomiebehörde weist geflissentlich deren Anliegen an die UNRWA ab, das größte Flüchtlingshilfswerk der UN, das ausschließlich für palästinensische Flüchtlinge gegründet wurde. Diesem Hilfswerk spenden die Amerikaner, die Deutschen, die Europäer und andere jährlich etwa 1 bis 1,5 Milliarden Dollar hauptsächlich dafür, dass diese armen Menschen weiterhin Flüchtlinge bleiben.
(Hinweis: Es gibt große Zahlen palästinensischer Flüchtlinge in Jordanien, auch in Syrien und im Libanon. Außerdem gibt es Palästinenser in Deutschland, Amerika, Kanada, Chile und vielen anderen Ländern.)
Jüdische Siedler
Jüdische israelische Siedler findet man heute nur im Westjordanland. Die früher bestehenden, z.T. auch historischen jüdischen Orte und Siedlungen im Gazastreifen, wurden seitens Israel im Jahr 2005 vollständig geräumt.
Israelische Siedler, ca. 350000, gibt es in den sogenannten C-Gebieten im Westjordanland, die von Israel kontrolliert und verwaltet werden. A-, B- und C-Gebiete (sowie H für Hebron) wurden in den Osloer Verträgen zwischen Israel und der PLO (als Repräsentant der Palästinenser) als Übergangslösung zur palästinensischen Unabhängigkeit vereinbart.
Wichtig zu wissen ist auch, dass die von den Palästinensern (PA oder Hamas) kontrollierten A-Gebiete „judenfrei“ sind. Für Juden wäre es lebensgefährlich, sich dort niederzulassen. Natürlich gibt es einige wenige Ausnahmen: jüdische Menschen, die Palästinenser geheiratet haben.
Während jüdische Israelis also in den palästinensischen Städten in Lebensgefahr wären, leben Araber in aller Regel neben bzw. mit den Juden in Israel. Mehr noch, viele Palästinenser dürfen in Israel arbeiten. Israelis ist aber aus Sicherheitsgründen der Zugang zu den A-Gebieten verboten. Auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel: Ein israelischer Reiseleiter bzw. Reiseleiterin darf mit einer Touristengruppe in diese Gebiete fahren, nachdem er/sie eine Genehmigung eingeholt hat. Ich war also schon oft in den A-Gebieten unterwegs.
Zusammenfassung
In Israel (ohne Westjordanland und Gaza) leben hauptsächlich Juden, daneben aber auch eine sehr große Zahl Araber (d.h. Palästinenser) und andere Minderheiten, die alle die gleichen demokratischen Rechte haben. Israelis – ob jüdisch, moslemisch, christlich, drusisch oder wer auch immer – haben das Recht, in Israel zu wählen und gewählt zu werden. Alle dürfen im Militär dienen, manche müssen.
Israelische Siedler im Westjordanland werden als ganz normale israelische Bürger mit Wahlrecht usw. behandelt. Palästinenser im Westjordanland und Gaza sind keine israelischen Staatsbürger. Sie haben theoretisch die Möglichkeit, für ihre Autonomiebehörde zu wählen und damit ihre eigene Regierung zu wählen. „Theoretisch“ ist es deshalb, weil seit 2006 keine Wahlen mehr im Gazastreifen und Westjordanland stattgefunden haben.